Die schwache Autorität der SchuleIm Interview „Die schwache Autorität der Schule“ in der Wochenzeitung „Die Furche“ vom 22. September 2011 beschäftigt sich Roland Reichenbach, Professor für Pädagogik an der Universität Basel, mit dem Thema Autorität, insbesondere in der Schule.


Reichenbach definiert Autorität grundsätzlich als asymmetrische Beziehung. In der heutigen demokratischen Gesellschaft sei es jedoch nicht mehr möglich, als Vorgesetzter den Mitarbeitern Befehle zu erteilen, da dies zu einer Hierarchisierung der Positionen führe. Außerdem, so der Pädagogikprofessor, könne man das Autoritätsverhältnis mit einem Tausch oder Handel vergleichen. Eine Autorität hat nur dann etwas zu sagen, wenn man dafür belohnt wird, zum Beispiel durch Anerkennung oder gute Noten. Mit diesem Wissen versuchen die pädagogischen Fachkräfte, eine Partnerschaft und Gemeinschaft mit den Jungen aufzubauen. Aus den Daten der Untersuchung von 300 „Best Practitioners“ geht außerdem hervor, dass die Autorität der Lehrer stark von ihrer Persönlichkeit abhängt. Einheitliche Merkmale lassen sich jedoch nicht finden.

Lehren heisst Lenken sagt Pädagogik Professor Reichenbach

Wie besteht eine Lehrperson vor ihrer Klasse? Zu dieser Frage forscht Pädagogikprofessor Roland Reichenbach. Seine Ergebnisse und persönliche Einstellung zu Autorität.

Wir haben sie wohl alle noch in Erinnerung: die Lehrerinnen und Lehrer,
deren blosses Erscheinen im Klassenzimmer dafür sorgte, dass aufmerksame Ruhe einkehrte. Und diejenigen, deren zigfache Ermahnungen uns nicht daran hinderten, Blödsinn zu machen. Vielleicht folgten wir Lehrpersonen vom Typ Nummer eins, weil sie uns einschüchterten. Oft aber hatte unsere Kooperation auch andere Gründe: Auf manche Lehrpersonen hörten wir, weil sie, wie wir fanden, es einfach draufatten.

Wie besteht eine Lehrperson vor der Klasse? «Autorität hat man nicht, sie wird einem zugesprochen – oder eben nicht», sagt Roland Reichenbach. Der ehemalige Realschullehrer ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich und forscht auf dem Gebiet der pädagogischen Autorität. Diese bezeichnet er als Beziehungsleistung, die nur gelingt, wenn andere sie anerkennen. «Eine wichtige Quelle der Anerkennung der Lehrperson als Autorität ist ihr Wissensvorsprung», so Reichenbach. «Wer sein Fach beherrscht, von dem lässt man sich in der Regel auch etwas sagen.» Wir erkennen also an, wem wir Glauben schenken können. 

«Ich sage als Lehrperson ehrlich, was ich denke.»

Roland Reichenbach, Pädagogikprofessor und ehemaliger Realschullehrer

Nebst Glaubwürdigkeit sei Vertrauenswürdigkeit wichtig: «Dabei steht nicht nur das Fachliche, sondern auch das Verhalten im Vordergrund: Ich sage als Lehrperson ehrlich, was ich denke, halte mein Versprechen, treibe keine falschen Spiele. Ich behandle alle Schülerinnen und Schüler gleich.»

Dass es um die Autorität der Lehrpersonen beziehungsweise den Gehorsam der Schülerinnen und Schüler so schlecht bestellt ist, wie Medienberichte es zuweilen vermuten lassen, glaubt Reichenbach nicht: «Nach wie vor sind die meisten Kinder und Jugendlichen kooperativ, lassen sich etwas zeigen.»

Dass Lehrpersonen an Achtung, ja ihre Rollenautorität praktisch ganz verloren hätten, sei etwas, das auch andere Berufe ereilte. So habe man früher unhinterfragt den Rat von Ärzten oder Bankiers befolgt, heute würden diese kritisch betrachtet und Zweit- und Drittmeinungen eingeholt.

Lehrpersonen als Begleiter?

Die Emanzipation der Gesellschaft von Rollenautoritäten habe in vielerlei Hinsicht den sozialen Fortschritt begünstigt, sagt Reichenbach. Nichtsdestotrotz böten Autoritäten im Idealfall aber auch Sicherheit und Orientierung, die Abkehr von ihnen gehe deshalb stets mit Verunsicherung einher. Daraus resultiere wiederum das Bedürfnis nach verlässlicher Führung, offen zutage trete es derzeit in der Politik, wo Populisten dank «sicherer» Rezepte für Ordnung und Stabilität Erfolge feierten.

«Wenn es selbst Erwachsene kaum aushalten, sich selbst überlassen zu sein, sollte das die Frage aufwerfen, wie viel Selbstbestimmung für Kinder gut ist», findet Reichenbach. Die Entwicklung der Lehrerrolle von der Führungsperson zum Lernbegleiter sieht er darum kritisch. Selbstbestimmtes Lernen, also Ansätze, wonach Kinder Stoff in Eigenregie erarbeiten oder ihren Lernfahrplan selbst bestimmen sollen, überzeugen den Pädagogen nicht: «Die Behauptung, es sei kindgerecht, auf Anleitung zu verzichten, dünkt mich ein Irrtum. Es hat etwas Perfides, unsere eigene Ratlosigkeit auf die Kinder abzuwälzen, indem vor allem sie entscheiden sollen.»

«Nichts ist so fragwürdig wie über neue Menschentypen neue Verhältnisse schaffen zu wollen.»

Die deutsche Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle über Arendts Sicht auf die Erziehung. 

Reichenbach sagt, er halte es in dieser Hinsicht mit Hannah Arendt. Die deutsche Philosophin (1906 – 1975) zählt zu den wichtigsten Verteidigerinnen der Demokratie und vertrat mit Nachdruck die Auffassung, pädagogische Erziehung müsse konservativ sein. Arendt verstand darunter das Bemühen von Lehrerinnen und Erziehern, Kindern gegenüber für die bestehende Welt einzustehen, sie zu bewahren und zu schützen. Dass man in der Welt Vertrauen haben und für die Welt hoffen darf, ist Arendt zufolge nämlich eine der wichtigsten Botschaften, die es Kindern zu vermitteln gilt.

«Nichts ist deshalb in Arendts Augen in der Erziehung so fragwürdig wie der Versuch, über die Heranzüchtung neuer Menschentypen neue Verhältnisse schaffen zu wollen», schreibt die deutsche Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle über Arendts Sicht auf die Erziehung. Und weiter: «Die auf Weltverbesserung ausgerichteten pädagogischen Rezepte haben vor allem ein Ergebnis: Das traditionelle Wissen der Eltern wird ausgehebelt und lässt diejenigen schwanken, die dem Kind Bodenhaftung geben sollten.»

Klare Anweisungen, transparente Ziele, strukturierter Unterricht

Für Reichenbach heisst dies, als Lehrperson auf klare Anweisungen, transparente Ziele und strukturierten Unterricht zu setzen. Auf diese Lenkungsfunktion seien vor allem leistungsschwächere Schüler und Kinder aus sozial benachteiligten Familien angewiesen. «Wir dürfen nicht vergessen», sagt Reichenbach, «dass die Schule für viele Kinder der einzige verlässliche, berechenbare Ort ist. Ihnen ist nicht geholfen, wenn wir Strukturen zunehmend aufweichen und Selbstorganisation an deren Stelle rücken. Im Gegenteil, sie werden dadurch noch orientierungsloser.»

Halt vermittle nur eine Führungsperson, die sich nicht scheue, sich auch als solche zu sehen, so Reichenbach. In Frankreich oder in den USA gehe man mit pädagogischer Autorität unbefangener um. So sei im Zusammenhang mit einer Lehrperson ganz selbstverständlich von Leadership die Rede.

Im deutschsprachigen Raum schrecke man jedoch vor dem Führungsbegriff zurück. «Der Missbrauch von Autorität und Gehorsam in der deutschen Vergangenheit wirkt in der Erziehung bis heute nach», so Reichenbach. «Auch in der Deutschschweiz, wo sich die pädagogische Landschaft schon immer stark an Deutschland orientiert hat.»

Dass Autorität zum diffamierten Begriff wurde, sei verständlich, aber problematisch, sagt Reichenbach: «Praktisch jede pädagogische Tätigkeit ist mit Führungsaufgaben verbunden. Darauf verweist schon der Wortteil ‹agoge›. Er leitet sich aus dem griechischen ‹ágein› ab, und damit ist nichts anderes als Führen oder Anleiten gemeint.»

Dass pädagogische Führung heute nicht mehr bedingungslos anerkannt wird, sondern verdient sein will, findet Reichenbach derweil eine begrüssenswerte Entwicklung: «Die Schule hat ihren Heiligenschein eingebüsst. Heute müssen Lehrpersonen ihre Autorität weitgehend selbst herstellen – und dies fällt vielen schwer

Der Grund für die schwache Autorität laut Reichenbach ist, dass die Erziehungswissenschaft das Thema Autorität schon länger vernachlässigt hat und wenn das Thema kurz angesprochen wurde, wurde sie auch nur negativ präsentiert. Positive Aspekte wie, dass Autorität eine Beziehung darstellt mit Anerkennung zu folge, wurden weggeblendet. Eine weitere Herausforderung die der Professor anspricht sind die Eltern, die die Lehrer nicht einmal selbst als Autorität wahrnehmen. Sobald ein Lehrer einen lästigen Schüler ermahnt, kommen die gleich Eltern am nächsten Tag und eine wichtige Besprechung zwischen Eltern und Lehrer findet statt. Diese Unzufriedenheit der Eltern drängt die Autorität der Lehrer noch mehr in eine schwache Position. Nicht zu vergessen ist ebenfalls der Fakt, dass das ausüben von Autorität sehr mühsam und anstrengend ist. Zuletzt betont Reichenbach, dass man Kritik an der Autorität in der modernen Gesellschaft auszuüben sollte. Grenzen sind heutzutage notwendig, damit sie überschreiten werden können

Was ist Autoritat  nach Reichenbach (Kommentar)

In der öffentlichen Diskussion um Erziehungsfragen scheint das Thema der pädagogischen Autorität wieder rehabilitiert zu sein. Allerdings ist der Begriff, die Notwendigkeit des Konzepts und die Bedeutung der pädagogischen Praktiken, die mit «Autorität» in Verbindung gebracht werden, innerhalb der Erziehungswissenschaft umstritten.

Trotzdem wissen zumindest praktisch tätige Pädagoginnen und Pädagogen, dass sie ohne Anerkennung ihrer Autorität kaum sinnvoll wirksam sein können. Das Buch will das Thema «Pädagogische Autorität» wieder sachlich in die erziehungswissenschaftliche Debatte einführen.

Dafür werden soziologische, psychologische, psychoanalytische, literarische und erziehungswissenschaftliche Zugänge zum Thema gewählt, in ihren historischen Facetten rekonstruiert und ihrer Bedeutung für aktuelle Fragestellungen analysiert.

Roland Reichenbach versteht unter Autorität ein Anerkennungsverhältnis, das nicht durch Zwang oder Gewalt, sondern durch freiwillige Anerkennung der Autoritätsperson zustande kommt1. Autorität wird also nicht einfach besessen, sondern von anderen zugeschrieben1.

Merkmale von Autorität nach Reichenbach

Asymmetrische Beziehung: Autorität wirkt in einer asymmetrischen Beziehung, in der eine Person akzeptiert, dass eine andere Person in bestimmten Bereichen etwas zu sagen hat.

Freiwillige Anerkennung: Die Anerkennung von Autorität erfolgt freiwillig und ohne Zwang.

Begrenzte Anerkennung: Die Anerkennung ist oft auf bestimmte Bereiche beschränkt, z.B. akzeptiert man von einem Arzt nur Ratschläge in Gesundheitsfragen.

Herausforderungen des Autoritätsbegriffs heute

Gesellschaftlicher Wandel: Historische und gesellschaftliche Veränderungen haben das Verständnis und die Akzeptanz von Autorität beeinflusst.

Machtmissbrauch: Es besteht die Gefahr, dass autoritäres Verhalten und Machtmissbrauch mit echter Autorität verwechselt werden.

Erhalt von Anerkennung: Die Herausforderung besteht darin, die Anerkennung und das Vertrauen derer zu erhalten, die die Autorität anerkennen sollen.

Reichenbach betont, wie wichtig es ist, das Phänomen der Autorität zu verstehen und zu fragen, was es für die pädagogische Ethik bedeutet.