Karin Silvina Hiebaum Corresponsal
Sigmund Freud verbreitete die These, Säuglinge seien Egomanen, die ihre Umgebung nicht interessiere, solange es ihnen selbst gutgehe. Doch neue Versuche zeigen: Schon Babys wissen, was richtig und was falsch ist. Dieses Gespür ist angeboren.
Gespannt verfolgt der zwölf Monate alte Paul ein Puppenspiel, das ihm Entwicklungspsychologen der Universität Yale vorführen: Drei Puppen spielen Ball. Die erste Puppe spielt den Ball zur zweiten Puppe. Die rollt ihn zurück zur ersten Puppe. Dann bekommt die dritte Puppe den Ball und verschwindet damit.
Anschließend legen die Psychologen die Handpuppen neben den Jungen und platzieren neben jede Puppe ein Häufchen mit Süßigkeiten.
Sie fordern den Jungen auf, einer Puppe eine Süßigkeit wegzunehmen. Zielstrebig greift er nach dem Haufen der dritten Puppe. Dann beugt er sich vor und haut ihr auf den Kopf.
Zwar kann der kleine Paul noch nicht sprechen, aber seine Taten zeigen, dass er bereits eine Meinung zu dem Puppenspiel hat: Er weiß auch, dass die dritte Figur unfair gehandelt hat.
Solche Versuche sorgten für eine Sensation in der Moralforschung und rüttelten am bestehenden Dogma der Moralpsychologie. Anders als bis dahin gedacht, sind Ansätze moralischen Verhaltens also schon angeboren.
Aus Gefühlsansteckungen wird Empathie
Im Laufe ihres Lebens durchlaufen Menschen eine Art moralische Karriere. Auch Paul aus dem Experiment entwickelt sich moralisch noch weiter. Die menschliche Moral ist ein komplexes Konstrukt, das mit höheren kognitiven Prozessen zusammenhängt.
Junge mit schwarzem Schatten
Was ist richtig, was ist falsch? | Bildquelle: SWR
Zunächst gibt es Gefühlsansteckungen: Kleine Kinder fangen spontan an zu weinen oder zu lachen, wenn eine andere Person weint oder lacht. Ein Baby wird vom Gefühl eines anderen Babys angesteckt. Es weiß nicht, dass der Ursprung des Gefühls in einer anderen Person liegt. Das Baby hat nämlich noch kein entwickeltes Ich-Bewusstsein.
Erst mit der Ausprägung dieses Ichs entwickelt sich auch Empathie. Sie ist eine tragende Säule im komplizierten Konstrukt menschlicher Moral. Wenn Paul 18 Monate alt ist, wird er fähig sein, Empathie zu empfinden. Er wird das Leid anderer erkennen können und nicht selbst weinen, sondern trösten. Psychologen sprechen von prosozialem Verhalten.
Das Ich und die Anderen
Nach seinem zweiten Geburtstag wird Paul erkennen, dass sein Verhalten und seine Bedürfnisse auch mal nicht denen anderer Menschen entsprechen. Nach und nach begreift das Kind, dass jede seiner Handlungen Folgen haben kann.
Kinder spielen mit Blechdosen
Unterschiedliche Perspektive | Bildquelle: SWR
In seinen folgenden Lebensjahren wird Paul das Innenleben seiner Mitmenschen immer besser verstehen lernen.
“Im 4. Lebensjahr kommt eine neue Fähigkeit dazu, die ‘Theory of Mind’ heißt. Das bedeutet, dass das Kind ab jetzt über Bewusstseinsvorgänge nachdenken kann. Es ist nun in der Lage, Überlegungen darüber anzustellen, was in anderen vorgeht”, erklärt die Entwicklungspsychologin Doris Bischof-Köhler.
Zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr wird Paul auch lernen, zwischen seiner Perspektive und der Perspektive anderer Menschen zu unterscheiden.
Kinder helfen anderen Menschen dann, weil sie ihre Hilfsbedürftigkeit erkennen und interpretieren: Sie selbst würden auch nicht gerne in einer solchen Situation stecken, also bieten sie anderen ihre Hilfe an.
Perspektiven unterscheiden lernen
Zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr beginnen Kinder über ihre eigenen Gedanken und Gefühle aus der Perspektive eines anderen nachzudenken.
Bis zu seinem 15. Geburtstag wird Paul verstehen, dass es in einer Gesellschaft Unmengen an verschiedenen Perspektiven gibt. Er kann diese einordnen und damit leben. Menschen, die dies nicht können, neigen zu aggressivem und unsozialem Verhalten, hat die Schweizer Entwicklungspsychologin Eveline Gutzwiller-Helfenfinger festgestellt.
Die moralische Entwicklung eines Menschen mündet darin, dass er in der Lage ist, Normen und Regeln ohne Kontrolle, Zwänge oder Anreize von außen zu verinnerlichen. Außerdem entwickelt er ein Empfinden für Gerechtigkeit. Das gilt für Geben und Nehmen, aber auch für Belohnen und Bestrafen.
Paul kann seine eigenen Bedürfnisse und Interesse dann zurückstellen. Er kann Mitgefühl und Schuld erleben, aber auch Verantwortung für andere übernehmen und hilfsbereit sein.